Die vietnamesische Diaspora in Deutschland zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Vielfalt an Migrationsgründen, -pfaden und Lebensverhältnissen aus. In Deutschland sind offiziell 215.000 Menschen mit vietnamesischem Migrationshintergrund registriert, von denen 63% selbst migriert sind und 55% Frauen sind. Mehr als ein Drittel der vietnamesischen Gemeinschaft lebt seit mindestens 30 Jahren in Deutschland, während die durchschnittliche Aufenthaltsdauer bei 23 Jahren liegt. Im Jahr 2022 waren 120.535 Personen mit vietnamesischer Staatsbürgerschaft in Deutschland ansässig – diese Zahl stellt eine Untergruppe der 207.000 dar, die möglicherweise bereits die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen haben.
Die vietnamesische Gemeinschaft ist die zweitgrößte in Europa nach Frankreich und zählt auch global zu den neun größten ihrer Art. Die Ansiedlungsschwerpunkte verteilen sich auf mehrere deutsche Städte und Regionen. Besonders signifikant ist Berlin, wo etwa 18%, das entspricht 35.000 Personen, der Gemeinschaft leben. Weitere wichtige Zentren sind München, Hamburg, Frankfurt am Main, Hannover, Leipzig und Dresden. (siehe BKA Forschungsbericht).
Einwanderungsgeschichte und historische Parallelen
Die Geschichte der deutschen und vietnamesischen Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg und zu Beginn des Kalten Krieges weist bemerkenswerte Parallelen auf. Das Genfer Abkommen von 1954 führte zur Teilung Vietnams entlang des 17. Breitengrades in die Demokratische Republik Vietnam im Norden mit der Hauptstadt Hanoi und die Republik Vietnam im Süden mit der Hauptstadt Saigon. In einer vereinfachten Analogie lässt sich die DDR mit Nordvietnam und die BRD mit Südvietnam vergleichen.
Diese Teilung Vietnams hatte tiefgreifende Auswirkungen nicht nur innerhalb des Landes, sondern formte auch die Lebensgeschichten und Erfahrungen der vietnamesischen Diaspora in Deutschland. Die historischen Ereignisse und die politischen Entwicklungen in beiden Ländern während dieser Zeit hatten einen nachhaltigen Einfluss auf die Entscheidungen und Lebenswege der vietnamesischen Gemeinschaft in Deutschland.
Bildungsmigration ab 1955 bis zu 1970er Jahren
Die Bildungsmigration aus Vietnam nach Deutschland nahm bereits ab 1955 ihren Anfang, als die DDR 348 vietnamesische Schüler:innen im Alter von zehn bis vierzehn Jahren aufnahm. In den folgenden Jahrzehnten des Kalten Krieges intensivierte sich die Bildungsmigration: Während in den 1960er und 1970er Jahren zahlreiche junge Menschen aus Vietnam sowohl in die BRD als auch in die DDR kamen, um zu studieren, eine Ausbildung zu absolvieren oder Praktika zu leisten, wuchs die Zahl der Studierenden, die für Bildungszwecke in die BRD kamen, bis 1975 auf insgesamt 2.055 Personen an. In der DDR waren die Zahlen noch signifikanter, mit Schätzungen zufolge zwischen 40.000 und 50.000 Zuwanderern bis 1980.
Ein markanter Unterschied zeigte sich im Rückkehrverhalten: Studierende und Auszubildende aus Nordvietnam kehrten nach Abschluss ihrer Ausbildung in der DDR häufig nach Vietnam zurück. Im Gegensatz dazu entschieden sich viele Südvietnamesen, die in der BRD lebten, nach dem Ende des Vietnamkrieges gegen eine Rückkehr und erhielten in Deutschland einen Aufenthaltsstatus, wodurch sie Teil der deutschen Gesellschaft wurden. . (siehe bdb „Die Heterogenität der vietnamesischen Diaspora in Deutschland und ihre transnationalen Bezüge“)
In der Zeit von 1967 bis 1975 kamen zudem vietnamesische Kriegswaisen in die BRD. Die Organisation „Terre des Hommes“ vermittelte rund 200 Vollwaisen an deutsche Adoptiveltern. Ein bekanntes Beispiel für diese Gruppe von Adoptierten ist der ehemalige Wirtschaftsminister Philipp Rösler.
Die vietnamesische Zuwanderung in die BRD nach dem Ende des Vietnamkrieges ab 1975
Nach der Kapitulation Südvietnams am 30. April 1975 und der Gründung der Sozialistischen Republik Vietnam am 2. Juni 1975 erlebte Vietnam große politische und wirtschaftliche Umbrüche, darunter die Einführung einer sozialen Marktwirtschaft und die Verstaatlichung von Land. Diese Veränderungen führten zu erheblichen Einschränkungen der persönlichen Freiheiten, politischen Repressionen und wirtschaftlicher Not, was wiederum umfangreiche Fluchtbewegungen auslöste.
Die Bootsflüchtlinge, auch bekannt als „Boat People„, die vor diesen Bedingungen flohen, wurden gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention auf mehrere Länder verteilt, darunter auch die BRD, die etwa 40.000 dieser Flüchtlinge aufnahm. Diese wurden mit Aufenthalts- und Arbeitserlaubnissen ausgestattet und erhielten Unterstützung durch Sprachförderung, berufliche Aus- und Weiterbildung sowie umfassende soziale Betreuung und Beratung, um ihre Integration in die deutsche Gesellschaft zu erleichtern.
Die vietnamesische Zuwanderung als Vertragsarbeiter:innen in die DDR zwischen 1980 und 1990
Die DDR erlebte ab 1980 eine weitere Form der Migration, nämlich Zuwanderung aus arbeitswirtschaftlichen Gründen. Dies geschah vor dem Hintergrund eines wirtschaftlichen Aufschwungs, der einen gesteigerten Bedarf an Arbeitskräften mit sich brachte. Im Rahmen von Staatsverträgen zwischen der DDR und verschiedenen Ländern, darunter Vietnam, Kuba, Algerien, Angola und Mosambik, wurden Vertragsarbeiter:innen angeworben.
Von 1980 bis 1984 kamen insgesamt 8.840 Personen aus Vietnam, von denen etwa 75% über berufliche Qualifikationen verfügten und als Facharbeiter:innen in der DDR tätig waren. Von 1987 bis 1989 erfolgte die Einreise vorrangig von Personen ohne formelle Ausbildung und Deutschkenntnisse, die einfache Tätigkeiten übernahmen. Kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs lebten etwa 60.000 Vietnamesinnen in der DDR.
Die Abkommen zwischen der DDR und den Herkunftsländern der Vertragsarbeiter:innen legten bestimmte Beschränkungen fest, darunter eine maximale Vertragsdauer von fünf Jahren, Einreiseberechtigung für nur eine Person pro Familie, keine Familienzusammenführung, Unterbringung in abgegrenzten Wohnheimen und die Möglichkeit der Abschiebung bei Nichteinhaltung der Vertragsbedingungen oder längerem Krankheitsausfall, sowie bei Schwangerschaften. Es wurden weder intensive Sprachkurse noch berufliche Aus- und Weiterbildungen angeboten, und eine Integration in die deutsche Gesellschaft war nicht vorgesehen. (siehe bpb „Arbeiten im Bruderland“)
Mit der Wiedervereinigung blieben die Vertragsarbeiter:innen in einem rechtlichen Vakuum. Im Gegensatz zu ausländischen Arbeitnehmer:innen in der BRD wurden sie als Werkvertragsarbeiter:innen eingestuft und erhielten lediglich eine befristete Aufenthaltsbewilligung für die Dauer des Arbeitsvertrages.
Nach der Wende waren viele Vertragsarbeiter:innen von Arbeitslosigkeit betroffen. Rückkehrende erhielten eine Entschädigung und einen freien Rückflug. Bis 1995 kehrten laut dem Ministerium für Arbeit, Invalide und Soziales der SR Vietnam 45.000 bis 50.000 vietnamesische Vertragsarbeiter:innen in ihre Heimat zurück. Erst 1997 wurde eine rechtliche Grundlage für die geschaffen, die noch in Deutschland lebten.
Die in Deutschland Verbliebenen verloren ihre Anstellung und hatten einen ungeklärten Aufenthaltsstatus. Sie konkurrierten auf dem Arbeitsmarkt und sahen sich mit geschlossenen Wohnheimen konfrontiert. Einige wagten den Schritt in die Selbstständigkeit. So organisierten sich die Vietnames:innen selbst. (vgl. bpb „Zwischen Rückkehr in die Heimatländer und Existenzsicherung vor Ort“)
Zuwanderung nach der Wiedervereinigung seit 1990 bis heute
Seit 1990 hat sich die Zuwanderung vor allem durch Familienzusammenführung, Asylverfahren und zum Zweck einer Ausbildung weiterentwickelt.
Zuwanderung nach der Wiedervereinigung seit 1990 bis heute
Nach der Wende öffnete sich für ehemalige Vertragsarbeiter:innen die Möglichkeit, ihre Familienangehörigen aus Vietnam nachzuholen und schwanger zu werden.
Zwischen 1998 und 2009 befand sich Vietnam kontinuierlich auf der Liste der zehn Länder mit den höchsten Zahlen von Asylanträgen, wobei die Bewilligungsquoten sehr niedrig ausfielen. Die meisten erhielten einen Duldungsstatus, da Vietnam die Rücknahme verweigerte. Viele dieser Asylantragsteller waren zuvor Vertragsarbeiter:innen in Osteuropa und suchten nach dem Zerfall der ehemaligen UdSSR Zuflucht in Deutschland.
Eine spezielle Migrationsstrategie für Frauen besteht darin, über eine (Schein-)Ehe oder ein Kind eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung zu erhalten. Denn die Mutter darf sich zusammen mit dem Kind, dessen Vater entweder einen deutschen Pass oder eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis hat, weiterhin in Deutschland aufhalten.
Eine weitere Zuwanderergruppe bilden vietnamesische Studierende: Im Jahr 2012 begannen beispielsweise 670 vietnamesische Staatsangehörige ihr Studium in Deutschland.
Seit 2015 erfolgt die Zuwanderung junger Menschen aus Vietnam vorrangig zur Ausbildung eines Berufes, insbesondere in Bereichen wie Krankenpflege, Hotelwesen und Gastronomie, welche in dem folgenden Graphik zu sehen ist:
Migrantenselbstorganisationen spielen eine wichtige Rolle, auch in transnationalen Netzwerken. Sie engagieren sich in formellen Vereinen und informellen Netzwerken und Initiativen. Die vietnamesische Diaspora engagiert sich sowohl in Deutschland als auch in Vietnam in verschiedenen Bereichen, angefangen von humanitären und kulturellen Aktivitäten bis hin zu politischem Engagement.